Lob der negativen Kritik

Wenn man sich in aktuellen Debatten ablehnend zu Vorschlägen aus dem Bereich der Bildung unter den Bedingungen der Digitalität (kurz: „digitale Bildung“) äußert, d.h. wenn man z.B. das Konzept des FlippedClassrooms, den Einsatz von Kahoot, H5P etc. kritisiert, trifft man immer häufiger auf das folgende argumentative Muster:

  1. Dem Kritiker wird vorgeworfen, er sei im Hinblick auf X (z.B. die Gestaltung einer Unterrichtsstunde mit digitalen Medien) lediglich destruktiv-ablehnend und habe selbst keine konstruktiv-weiterführenden Alternativen anzubieten.
  2. Aus (1) wird dann das Recht abgeleitet, die Kritik so lange zu ignorieren bzw. nicht ernst zu nehmen, bis der Kritiker selbst (zumindest theoretisch) gezeigt hat, wie X besser geht.
  3. Verschärft wird (2) häufig durch die Forderung, dass der Kritiker auch beweisen müsse, dass er X  (in der Unterrichtspraxis) besser könne als der Kritisierte.

Auf den ersten Blick mag dieses Reaktions-Schema zumindest dann seine Berechtigung haben, wenn man sich mit besserwisserischen Nörglern auseinandersetzt, die selbst keine guten Ideen haben.

Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass auch die Kritik an einer Position X, die keine konkreten Alternativen zu X aufzeigt, durchaus konstruktiv sein kann. Diese These soll im Folgenden kurz erläutert werden.

Erstens lässt sich festhalten, dass es gesellschaftlich akzeptierte Formen der Kritik gibt, die nicht von der Annahme ausgehen, dass man jemanden nur dann kritisieren dürfe, wenn man es selbst besser könne: Literaturkritiker müssen nicht die besseren Schriftsteller sein, Filmkritiker nicht die besseren Regisseure etc.

Zweitens gilt auch für den Bereich der Kritik der alte Grundsatz: „Omnis negatio est determinatio“, d.h. auch eine Form der negativen Kritik, die nur angibt, was X nicht ist, stellt eine (logische) Form der positiven Bestimmung von X dar.

Drittens erinnert uns ein Titel wie „Kritik der reinen Vernunft“ daran, dass „Kritik“ auch bedeuten kann, die Grenzen und Schranken eines Gegenstandsbereichs auszuloten. Genau in diesem Sinne „kritisiert“ Kant die reine Vernunft: Er bestimmt ihre Reichweite und Grenzen.

Vor diesem argumentativen Hintergrund lassen sich kontroverse Debatten vor allem über die Praxis der digitalen Bildung besser einordnen und verstehen. Denn häufig wird Kritik, die ganz grundsätzlich darauf zielt, den Rahmen zeitgemäßer Bildung abzustecken, einseitig als Kritik an einer konkreten Unterrichtspraxis missverstanden.

So kann man – um nur ein Beispiel zu nennen – das Input-Output-Schema, das dem prototypischen Mathematikunterricht zugrunde zu liegen scheint, ganz grundsätzlich für fragwürdig halten und daher auch das Konzept des FlippedClassrooms nicht für eine Revolution, sondern für die Fortschreibung einer didaktisch defizitären Praxis mit digitalen Mitteln halten: Der Nürnberger Trichter wird auch telepräsentisch durch YouTube nicht zu einem konstruktivistischen Instrument und das Dogma der „Stoffvermittlung“ bleibt bestehen.

Diese Form der Kritik richtet sich ganz gezielt auf die Einhegung des Bereichs der Bildung unter den Bedingungen der Digitalität und versucht, Argumente dafür zu liefern, X aus diesem Bereich auszugrenzen. Und dieser Form der Kritik wird man nicht dadurch gerecht, dass man dem Kritiker vorwirft, lediglich einen Ansatz abzulehnen, es selbst nicht besser zu können, keine konstruktiven Gegenvorschläge zu liefern etc.

Niemand weiß momentan, wie Bildung unter den Bedingungen der Digitalität in einem positiven Sinne konkret und unterrichtspraktisch aussieht bzw. aussehen wird.

Schon aus diesem Grund sind Formen negativer Kritik, die begründet darlegen, wie Bildung unter den Bedingungen der Digitalität nicht aussieht, wertvolle Beiträge zur aktuellen Debatte.

 

9 Gedanken zu “Lob der negativen Kritik

  1. Pingback: Umleitung: vom Lob der negativen Kritik bis zum Mythos 1968 | zoom

  2. Danke für diesen Beitrag. Zu der „gesellschaftlich akzeptierten Formen der Kritik“ ist mir noch ein Gedanke gekommen: was macht einen Literaturkritiker, der gesellschaftliche akzeptiert kritisieren darf, zum Literaturkritiker? Sein Studium? Seine (wohlmöglich zahlreichen) Buchbesprechungen in großen deutschen Tageszeitungen? Nicht jeder Rezensent bei amazon wird sich wohl als gesellschaftlich akzeptiert bezeichnen dürfen. Auch in der Gesellschaft haben wir doch Normen, nach denen wir für uns individuell oder auch wir als Gemeinschaft festlegen, ob wir Kritik akzeptieren. Der Literaturkritiker kann es vielleicht nicht besser, aber er hat vielleicht in anderen Bereichen Kompetenzen, die wir als wertvoll ansehen und daher seine Kritik akzeptieren können. Kritiken von „Kleingeistern“ wird doch auch fernab von Twitter milde lächelnd ignoriert.

    • Ich teile Deine These, dass ein Kritiker ohne gesellschaftliche Akzeptanz kein Kritiker ist. Mit John Searles Theorie der sozialen Ontologie ließe sich sagen, dass die gesellschaftliche Funktion des Kritikers der allgemeinen Formel „X zählt im Kontext K als Y“ folgt, die die Grundlage institutioneller Realität darstellt. Und Person X zählt im Kontext der Literaturkritik z.B. dann als Kritiker, wenn ihm diese Funktion durch kollektive Intentionalität zugesprochen wird: Es muss genügend andere Personen geben, die X für einen Kritiker halten, um ihn zu einem Kritiker zu machen. Wie man sich diese Zuschreibung erwirbt, kann unterschiedlich sein: Amazon-Rezensionen sind eher ein schwieriger Weg 😉

  3. Pingback: „Digitale“ Bildung, Offenheit und die Ebenen der Kritik - Matthias Andrasch

  4. Hallo Axel,
    vielen Dank für diesen Beitrag. Da ich mich auch mit Flipped Classroom etc. beschäftige und bei Twitter unterwegs bin, habe ich deine Kritik an vielen Stellen mitbekommen. Dass die Kritik nicht immer nur freudig aufgenommen wird, liegt wohl auch daran, dass manche Protagonisten sehr viel Zeit und Mittel in ihre Arbeit und ihr Konzept investieren, sich sehr damit identifizieren und die Kritik dann ein wenig persönlich nehmen. 140 Zeichen sorgen zudem für (ironisch) zugespitzte Aussagen, die beim Empfänger sehr unterschiedlich ankommen können.

    Ich empfinde diese Kritik keineswegs als destruktiv, sondern als hilfreich. Deine Begriffsschöpfung „Palliative Didaktik“ hat viele Entwicklungen im Bereich des Lernens mit neuen Medien gut getroffen.
    Du argumentierst sehr stark aus einer konstruktivistischer Sichtweise, die ich sehr weit mitgehen kann. Andererseits sehe ich auch die Notwendigkeit, an manchen Stellen mit „Drill & Practice“ zu arbeiten, allerdings so wenig wie möglich und möglichst eingebettet in Sinn stiftenden Kontext. Hätten wir mehr Zeit oder weniger vorgegebene Inhalte, könnte an vielen Stellen sicherlich anders unterrichtet werden.

    Wenn Lehrer auf Twitter so von Tools und Apps schwärmen, die vorrangig der Inhaltsvermittlung dienen, dann hat das auch (aber nicht nur) mit den Vorgaben zu tun, die ihnen gemacht werden.
    Beispielweise entspricht die Abschlussprüfung in Mathematik nicht meinen Vorstellungen von zeitgemäßer Bildung und Lernen. Geschrieben wird sie trotzdem. Meine Aufgabe in Klasse 9 und 10 ist es also die Balance zu wahren zwischen prüfungsvorbereitendem Unterricht und sog. zeitgemäßer Bildung. Oft lässt sich das verbinden, oft aber auch nicht. Je näher die Abschlussprüfung kommt, desto mehr schlägt das Pendel in Richtung „Teaching for the Test“ aus.
    Hier ist sicherlich eine breite Diskussion notwendig, wie Bildungspläne und Abschlussprüfungen gestaltet sind. Solange diese aber so aussehen, wie sie derzeit sind, müssen Lehrer im (kurzfristigen) Interessen ihrer Schüler darauf Rücksicht nehmen.
    Gut ist, wenn hier Fachdidaktiker den Finger in die Wunde legen, daher fand ich auch https://cspannagel.wordpress.com/2017/06/16/nicht-flippig-genug/ von Michael Gieding und die Antwort https://cspannagel.wordpress.com/2017/10/03/flippig-sein-wenns-passt/ von Christian Spannagel sehr wertvoll.
    Eine schöne Woche wünscht
    Torsten

    • Danke für den ausführlichen Kommentar. Ich glaube auch, dass die analogen Prüfungsformate momentan noch eine Art Flaschenhals sind, durch den viele Bemühungen, die Schule an die Bedingungen der Digitalität anzupassen, nicht hindurch gehen. Im WS 17/18 werde ich in einem Seminar versuchen, gemeinsam mit Kolleg(inn)en und Studierenden Ideen für „neue“ Prüfungsformate zu entwickeln. Mal schauen, ob es klappt!

  5. Ja, wichtiges Thema!
    Viele verstehen alltagssprachlich unter Kritik „etwas schlecht machen, runtermachen“ – immer auf der Folie der Konkurrenz. Kollaboration ist im digitalen Zeitalter eines der wichtigsten Merkmale. Kritik heißt da, ich werde von Anderen darauf aufmerksam gemacht, dass etwas an meinem Zeug (Konzept, Modell, Gedanken, Text etc.) verbesserungsfähig und -würdig ist. Dass sich überhaupt jemand damit befasst und seine kritischen Anmerkungen macht müsste als begrüßenswerter Beitrag und Hilfe verstanden werden. Ich ärgere mich nie über Kommentare oder Korrekturvorschläge. Ich bin im Gegenteil enttäuscht, wenn jemand meine Beta-Versionen nicht der Beschäftigung und also auch der Kritik wert befindet. Die unter dem Druck des Klimawandels nötigen hervorragenden Problemlösungen werden nur durch die Zusammenarbeit – die auch Kritik enthalten muss! – möglich.
    Die alte Haltung: „Man darf nix sagen, es sei denn Positives“ gehört in ein autoritäres Zeitalter, wo es nicht nur dualistische Beurteilung gibt (richtig/falsch), sondern auch Autoritäten, die über Daumen rauf/Daumen runter zu bestimmen haben, führt nicht zu guten Ergebnissen, da jeder seine „Marke“ vor den anderen „Marken“ schützen und verteidigen muss. Kritik ist da ein Mittel des Konkurrenzkampfes.
    Das ist nicht passend im Zeitalter der Digitalität. Digitale Bildung erfordert eine Kritik-Kultur, die genau wie im Sinne des Posts oben, weiterbringt. Das ist eigentlich Bestandteil der wissenschaftlichen Haltung, auch wenn sie im Wissenschaftssystem der kapitalistischen Konkurrenz-Gesellschaft nicht befriedigend umsetzbar.
    Du schreibst, niemand wüsste bisher, wie es gehen könnte. ich denke, es gibt schon einige Hinweise, wohin es gehen müsste, und wie die Prinzipien dafür aussehen, und mit welchen Mitteln Bildung im digitalen Zeitalter unter den gerade vorgefundenen Praxisbedingungen möglich ist. Ich denke da natürlich ans Projektlernen (woran denn sonst.) Im Heft Nr. 5/Jan. 2016 des Globalen Lernens. Aspekte einer Postwachstums-Ökonomie Hamburger Unterrichtsmodelle habe ich ein Konzept/Strategie beschrieben und zusammen mit einem Lehrer ausprobiert und dokumentiert, die – wie ich meine – in diese Richtung zeigt. http://li.hamburg.de/publikationen/5307326/globales-lernen-postwachstum/

  6. Pingback: #molol18: Diskussionsrunde zu Worst Practices – Lernen im digitalen Wandel

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