Wie ein Common-Sense-Medienbegriff zu pädagogischen Fehlschlüssen führt

Das Nachdenken über den Medienbegriff wird häufig als theoretisches Glasperlenspiel angesehen, das allerhöchstens im praxisfernen Lehnstuhl des wissenschaftlichen Elfenbeinturms seinen Platz hat.

Im Folgenden soll an einem aktuellen Beispiel aus einem höchst einflussreichen Buch gezeigt werden, wie ein inadäquater Medienbegriff zu pädagogischen Fehlschlüssen führt, die erhebliche Folgen für die konkrete Unterrichtswirklichkeit haben können.

Zierer und der Computer

In seinem Buch „Lernen 4.0“, das den Untertitel „Pädagogik vor Technik“ trägt, widmet sich der Augsburger Schulpädagoge Klaus Zierer u.a. dem SAMR-Modell. Um zu erläutern, was nach Ruben Puentedura mit der Stufe „Substitution“ (=Ersetzung) gemeint ist, wählt Zierer folgendes Beispiel:

Für gewöhnlich schreiben Schülerinnen und Schüler ihre Geschichten mit Papier und Bleistift. […] Wird nun anstelle von Papier und Bleistift der Computer verwendet, so erfolgt zwar eine Digitalisierung im Lernprozess, aber ausschließlich auf der Ebene der Ersetzung: Papier und Bleistift werden durch einen Computer ersetzt. Ein Mehrwert wird dadurch nicht möglich sein. Die Geschichte wird durch den Einsatz eines Computers keine andere werden.

(Zierer 2017, S. 64.
Hervorhebung von mir, A.K.)

Diese kurze Passage ist nicht nur wegen des Mehrwert-Begriffs problematisch, sondern vor allem wegen der Behauptung, dass sich durch den Wechsel des Schreibmediums das Schreibprodukt nicht verändert.

Dass das falsch ist, wusste schon Friedrich Nietzsche.

Nietzsche und die Schreibmaschine

Im Februar 1882 schreibt Nietzsche einen Brief an Heinrich Köselitz (aka Peter Gast). Das Besondere: Er schreibt den Text nicht mit der Hand, sondern mit dem neuen Medium der Schreibmaschine. Und er merkt rasch, wie die „Schreibkugel“ sein Denken und seine Texte verändert:

Sie haben Recht: unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken. Wann werde ich es über meine Finger bringen, einen langen Satz zu drücken!

(Nietzsche 1908, S. 97)

Schreibmedien sind keine neutralen Vehikel zum Ausdruck fertiger Gedanken. Man muss kein Anhänger von McLuhans Medienbegriff sein, um zu erkennen, dass die Form eines Mediums maßgeblich dessen Inhalt und Wirkung prägt. In den Worten des Deutschdidaktikers Michael Staiger:

Es ist also keineswegs gleichgültig, ob ein Satz mit Kreide an die Tafel geschrieben wird oder ob er als Projektion einer Overhead-Folie oder eines Computerbildschirms erscheint, die Medienästhetik hat immer einen entscheidenden Einfluss auf die Medienwirkung.

(Staiger 2006, S. 180)

Wenn man die Form eines Mediums untersucht, dann nimmt man u.a. in den Blick, welche Auswirkungen Medien auf das Denken, das Handeln, Inhalt und Struktur der Kommunikation, soziale Gemeinschaft und die Identität besitzen. Dass Medien beispielsweise die Auswahl sinnvoller Inhalte drastisch begrenzen können, hat Neil Postman in dem bekannten Diktum, dass man mit Rauchzeichen nicht philosophieren könne, ironisch zugespitzt (vgl. Postman 1985, S. 15-16). Und wie sehr z.B. eine mediale Form wie WhatsApp schriftliche, visuelle und mündliche Kommunikation prägt, erleben sehr viele Nutzer(innen) jeden Tag.

Mehr als ein Jahrhundert nach Nietzsches (temporärem) Wechsel von der Handschrift zur Schreibmaschine beschreibt der amerikanische Wissenschaftsjournalist Steven Johnson seine persönlichen Erlebnisse beim Übergang von der Handschrift zum Verfassen eines Textes mit dem Computer folgendermaßen:

Nach einigen Monaten bemerkte ich einen qualitativen Wandel in der Art und Weise, wie ich mit Sätzen arbeitete: Das Denken und der Prozeß des Schreibens begannen, einander zu überschneiden. […] Der Computer hatte mir nicht nur das Schreiben leichter gemacht, sondern auch die Substanz dessen verändert, was ich schrieb, und ich vermute, daß er in dieser Hinsicht einen ungeheuren Einfluß auf mein Denken hatte.

(Johnson 1997, S. 163-164)

Kurz: Zierer irrt. Die Geschichte wird durch den Einsatz des Computers eine andere werden.

Shannon und der Channel

Es bleibt die Frage, warum Zierer die These vertritt, der Wechsel des Schreibmediums habe keine Auswirkungen auf das Schreibprodukt. Die Antwort liegt auf der Hand: Er stützt sich – zumindest implizit – auf einen Common-Sense-Medienbegriff, der von der Vorstellung ausgeht, dass Medien eine Art Kanal darstellen, durch den Informationen von einem Sender zu einem Empfänger übermittelt werden.

Die Bestandteile dieses populären „Sender-Empfänger-Modells“ haben erstmals im Rahmen der Mathematical Theory of Communication von Claude E. Shannon fest definierte Bedeutungen erhalten (vgl. Shannon/Weaver 1949). Doch Shannon ging es einzig und allein um das technische Problem der Signalübertragung und nicht um die semantisch-pragmatischen Aspekte bedeutungsvoll-zwischenmenschlicher Kommunikation. Er formuliert das sehr deutlich: „[The] semantic aspects of communication are irrelevant to the engineering problem.“ (Shannon/Weaver 1949, S. 31) Dass das Modell von Shannon und Weaver ungeeignet ist, um interpersonale Kommunikationsprozesse zu analysieren, wird daher in der Forschung immer wieder betont (vgl. hierzu exemplarisch Köck 2000, S. 355-358; Krallmann/Ziemann 2001, S. 31-33; Staiger 2007, S. 55-58).

Im Rahmen dieses Modells, in dem „Geist und Bedeutung keinen Ort“ (Kümmel 1997, S. 217) haben, ist ein Medium nichts weiter als ein Channel, der geeignet ist, Signale vom Sender zum Empfänger zu übertragen: „It may be a pair of wires, a coaxial cable, a band of radio frequencies, a beam of light etc.“ (Shannon/Weaver 1949, S. 34). Das Medium selbst verändert die transportierte Nachricht nicht und bleibt gewissermaßen unsichtbar, solange die Signale störungsfrei übermittelt werden.

Medien und Common Sense

Das Sender-Empfänger-Modell begünstigt die Vorstellung, dass Medien lediglich neutrale Übertragungskanäle sind, mit deren Hilfe sich vorgefertigte Informationspakete (wie materielle Güter auf einem Fließband) vom Sender zum Empfänger transportieren lassen (vgl. hierzu Sandbothe 1996, S. 426 und Frederking/Krommer/Maiwald 2018, S. 12-16).

Und wenn man – wie Zierer – mit dem Common-Sense-Medienbegriff des Sender-Empfänger-Modells argumentiert, scheint es tatsächlich irrelevant zu sein, ob eine „Geschichte“ durch den Kanal der Handschrift auf ein Blatt Papier oder durch den Kanal der Computerschrift auf einen Bildschirm transportiert wird.

Erhellend ist in diesem Zusammenhang, aus welcher Quelle das Geschichten-Beispiel stammt, mit dem Zierer die Stufe „Substitution“ des SAMR-Modells erläutert und das – wie gezeigt wurde – auf einem Common-Sense-Medienbegriff beruht:

Zierer-65-Common-Sense

(Aus: Zierer 2017, S. 65)

Die Bibliografie verrät: Bei „Common Sense 2017“ handelt es sich nicht etwa um einen wissenschaftlichen Text, sondern um ein Video, das unter der URL

https://www.commonsense.org/education/videos/introduction-to-the-samr-model 

zu finden ist.

Hier schließt sich dann die Diallele: Von commonsensemedia.org zum Common-Sense-Medienbegriff.


Literatur:

Frederking, Volker/Krommer, Axel/Maiwald,Klaus (2018): Mediendidaktik Deutsch. Eine Einführung. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Erich Schmidt.

Johnson, Steven (1997): Interface Culture. Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern. Stuttgart: Klett-Cotta 1999.

Köck, Wolfram K. (2000): Kognition-Semantik-Kommunikation. In: Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= stw 636), S. 340–374.

Kümmel, Albert (1997): Mathematische Medientheorie. In: Spahr, Angela / Kloock, Daniela: Medientheorien. Eine Einführung. München: Fink (= UTB 1986). S. 205-236.

Krallmann, Dieter/Ziemann, Andreas (2001): Grundkurs Kommunikationswissenschaft. Mit einem Hypertext-Vertiefungsprogramm im Internet. München: Fink (= UTB 2249).

Nietzsche, Friedrich (1908): Friedrich Nietzsches gesammelte Briefe: Bd. Briefe an Peter Gast, herausgegeben von Peter Gast. Schuster und Loeffler.

Postman, Neil (1985): Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988.

Sandbothe, Mike (1996): Interaktive Netze in Schule und Universität. Philosophische und didaktische Aspekte. In: Bollmann, Stefan/Heibach, Christiane (Hrsg.): Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur. Mannheim: Bollmann, S. 424–433.

Shannon, Claude E. / Weaver, Warren (1949): The Mathematical Theory of Communication. Urbana, Chicago, London: University of Illinois Press 1972.

Staiger, Michael (2006): Die Tücke der Medien. Medienpraktische Fragen zum Einsatz von Spielfilmen. In: Frederking, Volker (Hrsg.): Filmdidaktik und Filmästhetik. München: kopaed 2006 (=Jahrbuch Medien im Deutschunterricht 2005), S. 179-189.

Staiger, Michael (2007): Medienbegriffe, Mediendiskurse, Medienkonzepte. Bausteine einer Deutschdidaktik als Medienkulturdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider.

Zierer, Klaus (2017): Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik. Baltmannsweiler: Schneider.

13 Gedanken zu “Wie ein Common-Sense-Medienbegriff zu pädagogischen Fehlschlüssen führt

  1. Pingback: Paradigmen und palliative Didaktik. Oder: Wie Medien Wissen und Lernen prägen. | Bildung unter Bedingungen der Digitalität

  2. Pingback: Technik und Pädagogik in einer Kultur der Digitalität – Schule Social Media

  3. Pingback: Um was geht’s beim Thema: Inwiefern verändert die App-Entwicklung die Bildung? – Seminarkurs der Ehrhart-Schott-Schule

  4. Pingback: Webinar – Erklärvideos – Materialsammlung – jnwbr.blog | Jan Weber

  5. Pingback: Schafkopf, Philologenverband und Opa Hoppenstedt | Bildung unter Bedingungen der Digitalität

  6. Pingback: Warum wir kein digital gestütztes Lernen brauchen – ein Bildungs-Puzzle | Bildung unter Bedingungen der Digitalität

  7. Interessant. Vermutlich habe ich das überlesen, aber inwiefern genau ändert sich denn jetzt die Geschichte? Einfaches Beispiel. Ich schreibe auf ein Papier – „Mein Auto ist kaputt“. Jetzt schreibe ich den gleichen Text in den Computer. Wie genau hat sich da jetzt der Inhalt geändert? Ich kann Ihren Text schon verstehen, aber mir fehlt jetzt ganz konkret, wo sich die Geschichte geändert hat? Außer optisch. Könnten Sie das mit dem einfachen Autobeispiel mal kurz erklären?

    • Wenn man einen Text, der auf Papier entstanden ist, einfach in einen Computer eintippt, ändert sich der Inhalt natürlich nicht. Aber auf Papier entstehen andere Texte als auf dem Computer. Das sollen u.a. die Hinweise auf Nietzsche, Johnson und Postman illustrieren.

      • Aha. Vielen Dank. Dann sprechen wir also von verschiedenen Dingen. Ich verstehe nämlich genau das im SAMR Modell als Voraussetzung. Substitution soll ein einfaches Ersetzen von handschriftlichen Inhalten sein. Gleicher Inhalt, anderes Medium. Dass sich Inhalte ändern können, wenn man sie von Anfang an digital erarbeitet, mag sein. Aber ich glaube nicht, dass es darum bei diesem S geht. Ein Hefteintrag, den ich den Schülern gebe, bleibt inhaltlich gleich. Eine Aufgabe in Mathe bleibt die gleiche. Ein Diktat hat die selben Wörter. In Ihrem Verständnis von Substitution geht es um die relativ freie Selbstgestaltung von Gedanken in Erarbeitungsprozessen, die am PC anders sind als mit dem Stift. Ok. Hat wohl beides seine Berechtigung.

      • Aus meinem Text folgt u.a., dass es die Stufe „S“ im SAMR-Modell nicht gibt. Sie ist bestenfalls eine heuristische Fiktion.

        Die Beliebtheit des SAMR-Modells rührt auch daher, dass das Modell den Common-Sense-Medienbegriff gleichsam „eingebaut“ hat. SAMR richtet viel theoretischen Flurschaden an und hat kaum Nutzen.

      • Ja, da geb ich Ihnen recht. Ein reines S wird es nicht geben. Aber zur Veranschaulichung eines Prozesses hat es in der Theorie wohl schon eine gewissen Logik. Vielen Dank für die Antworten. Gruß

  8. Pingback: Die Schreibkugel - digi4all

Kommentar verfassen