„5G Corona“. Oder: algorithmische Isosthenie

Am 26.05.2020 wurde ein Tweet von Donald Trump, in dem es um potenziellen Wahlbetrug bei Briefwahlen ging, von Twitter durch einen Faktencheck ergänzt: „Get the facts about mail-in ballots“.

Wer dieser Einladung folgt, findet u.a. eine sorgsam kuratierte Liste von Quellen, die Belege dafür liefern, dass Trump unhaltbare Behauptungen aufstellt. Die Kontroverse zwischen Trump (A) und Twitter (B) lässt sich stark verkürzt und formalisiert wiefolgt darstellen:

  • A behauptet: p 
  • B behauptet: nicht-p.

Neben der sympathetischen Zirkularität, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich A und B wechselseitig versichern, wie großartig sie einander finden, ist die kritische Konfrontation von p und nicht-p eines der kommunikativen Grundmuster im Netz. Es weist nicht zufällig Ähnlichkeiten mit dem  Isosthenie-Prinzip der pyrrhonischen Skepsis auf (vgl. hierzu Hossenfelder 1985, S. 42ff. und Gabriel 2013, S. 210ff.). 

Nach Sextus Empiricus besteht dieses Prinzip darin, dass jeder Behauptung p eine Behauptung nicht-p entgegengestellt werden kann (vgl. Grundriss der pyrrhonischen Skepsis, I, 13-14). Nur eine dieser Behauptungen (p oder nicht-p) kann wahr sein. Gesucht wird ein Verfahren, mit dem sich entscheiden lässt, ob p oder nicht-p gilt.

Üblicherweise geben wir Begründungen für eine Behauptung an oder wir versuchen, sie in irgendeiner Form zu verifizieren. Die Begründungen dafür, eine These einer anderen vorzuziehen, sind jedoch wiederum nur Behauptungen. Diesen Behauptungen kann man erneut widersprechende Behauptungen entgegenstellen und dem Isosthenieprinzip auf der nächsten Ebene Geltung verschaffen.

Die Abfolge von Behauptung und Gegenbehauptung kann in einen infiniten Progress führen, sich als vitiöser Zirkel erweisen oder abgebrochen werden. 

Im Isosthenie-Prinzip kann man die antike Blaupause für aktuelle Fake-News-Debatten und Verschwörungsdiskurse entdecken. Die skeptische Gegenüberstellung von p und nicht-p erleben wir heute als „beunruhigende Dauererfahrung greller Kontraste“ (Pörksen 2018, S. 119) oder als Konfrontation von Fakten und „alternativen Fakten” (vgl. Jaffe 2017), die sich permanent in Filter-Clashs entlädt.

Unter den Bedingungen der Digitalität ist p prinzipiell nur einen Klick von nicht-p entfernt. Und beim Scrollen durch eine Twitter-Timeline gehen die Welten der Rationalität und des Irrsinns nahtlos ineinander über. Vor diesem Hintergrund lässt sich von Sextus Empiricus zu Mario Sixtus überleiten.

Von Sextus zu Sixtus

Mario Sixtus setzte am 06.06.2020 folgenden Tweet ab, der auf mehreren Ebenen bemerkenswert ist und für Nicht-Twitterer vielleicht erläutert werden muss:

https://twitter.com/sixtus/status/1269212920971395073?s=20

Das Ziel des Tweets bestand darin, den Twitter-Faktencheck bewusst auszulösen. Und in diesem Fall genügte bereits die asyndetische Reihung zweier Begriffe, um den tumben Algorithmus zu triggern:

WENN ein Tweet „5G“ UND „Corona“ enthält, DANN wird der warnende Zusatz „Zu den Fakten über COVID-19“ eingeblendet. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier jemand versucht, das neue 5G-Netz und die Corona-Pandemie ursächlich zu verknüpfen, erscheint hinreichend groß.

Während das antike Isosthenie-Prinzip seinen Anfang stets in einer gehaltvollen Behauptung p nahm, genügen der algorithmisierten Variante isolierte Begriffe. Semantik wird durch eine Datenbank-Abfrage ersetzt. Neben der Algorithmizität treten hier auch neue Formen der Referentialität zutage, die nach Stalder (2016) Kennzeichen einer Kultur der Digitalität sind.

Interessant ist nun, wie sich Debatten entwickeln, die durch die algorithmische Entgegnung „nicht p“ initiiert werden. Was geschieht beispielsweise, wenn der Faktencheck auf Quellen verweist, die zeigen, dass es keinen Zusammenhang zwischen 5G und Corona gibt?

Die Antwort lautet: Das Isosthenie-Prinzip behält seine Gültigkeit. Folgt man den entsprechenden Links findet man (fast) zu jedem Beleg, der für p spricht, eine Entgegnung der Form nicht-p.

Behauptung p:

https://twitter.com/RhiannonJudithW/status/1245469459298553856?s=20

Behauptung nicht-p:

https://twitter.com/MikAlexH/status/1245481846806384644?s=20

An diesem Beispiel sieht man auch sehr deutlich, dass selbst die offensichtliche Absurdität einer Behauptung nichts daran ändert, dass sie nur durch eine andere Behauptung gekontert werden kann. Falsche, widersprüchliche und absurde Behauptungen sind daher ein wichtiger Treibstoff des Wechselspiels von p und nicht-p.

Seelenruhe versus Gereiztheit

Die erstaunlichen strukturellen Parallelen zwischen aktuellen Netz-Debatten und dem Isosthenie-Prinzip dürfen über einen wesentlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen.

Bei Sextus (Grundriss der pyrrhonischen Skepsis, I, 8) liest man:

„Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen.“

Während die pyrrhonischen Skeptiker das Isosthenie-Prinzip als Weg zu Zurückhaltung und Seelenruhe sahen, führt dasselbe Prinzip im Netz nicht zur Meeresstille des Gemüts, sondern – um es mit Bernhard Pörksen (2018) zu sagen – zur großen Gereiztheit.

Es wird Zeit, mal wieder die alten Griechen zu lesen. Oder zumindest nicht auf jedes p (sofort) mit nicht-p zu reagieren:

Literatur:

Gabriel, Markus (2013): Die Erkenntnis der Welt – Eine Einführung in die Erkenntnistheorie. 2. Auflage. Freiburg/München: Karl Alber.

Hossenfelder, Malte (1985): Einleitung. In: Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Frankfurt am Main: Suhrkamp (=stw 499), S. 9–88.

Jaffe, Alexandra (2017): Kellyanne Conway: WH Spokesman Gave ‚Alternative Facts‘ on Inauguration.

Pörksen, Bernhard (2018): Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München: Karl Hanser.

Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Frankfurt am Main: Suhrkamp (=edition suhrkamp 2679).

2 Gedanken zu “„5G Corona“. Oder: algorithmische Isosthenie

  1. Hallo Herr Krommer,

    Netzdebatten kranken meines Erachtens oft an einem starken Hang zur Polemisierung und Polarisierung. Eine skeptisches „Es könnte so sein oder auch genau andersherum“ scheint mir etwas völlig anderes zu sein. Der Skeptiker hat die allergrößten Probleme sich auf eine Deutung der Wirklichkeit festzulegen, während es in Netzdebatten oft um verbohrtes Recht behalten geht. Hier könnte man vielleicht eher die „Eristische Dialektik“ von Schopenhauer anbringen.

    Warum dieser polemische Diskussionsstil gerade in Netzdebatten so virulent wird? Hier könnte man sicher auf McLuhans Medientheorie verweisen. Das Medium prägt unsere Art und Weise der Kommunikation. Und wenn der Hang zur Selbstdarstellung gegenüber dem konsensorientierten Diskurs überwiegt kann nichts Gescheites bei rum kommen.

    Viele Grüße
    Max Blindenhöfer

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