Heute stieß ich bei Twitter auf eine Reihe von Tweets, in denen die Möglichkeiten des Sprachenlernens durch Mixed Reality-Anwendungen (VR, AR) ausgelotet werden.
In einem der Lern-Szenarien führen “Berührungen” einzelner Bestandteile eines Hauses beispielsweise dazu, dass entsprechende Vokabeln (“das Haus”, “der Flur” etc.) angezeigt werden. Auf diese Weise lässt sich in einem virtuellen Rundgang erkunden, welche Wörter bzw. Vokabeln mit welchen Gegenständen oder Räumen verknüpft sind.
Mit einem Knöpfchen kann man die aktuelle Sprache verändern: Wo gerade noch “Bett” oder “Tisch” zu lesen war, erscheint “bed” oder “table”, wenn man von Deutsch auf Englisch umschaltet (s. Abb.)

Was auf den ersten Blick durchaus eindrucksvoll wirkt, ist auf den zweiten Blick jedoch problematisch, denn hier wird eine falsche Vorstellung vom Bezug zwischen einem Wort und seiner Bedeutung genährt, die Quine als “unkritische Semantik” bezeichnet:
Eine solche unkritische Semantik ist nichts anderes als der Mythos von einem Museum, in dem die Ausstellungsstücke Bedeutungen und die Schildchen daran Wörter sind; und nach diesem Mythos werden Sprachen dadurch geändert, daß man die Schildchen austauscht. (Quine 1975, S. 42)
Letztlich steckt hinter diesem Bedeutungs-Museum das Augustinische Konzept der Sprache, das Wittgenstein zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen skizziert:
Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht. […] Wer das Lernen der Sprache so beschreibt, denkt […] zunächst an Hauptwörter wie “Tisch”, “Stuhl”, “Brot”, und die Namen von Personen […]. (Wittgenstein 1953, §1)
Roy Harris (1988) spricht von “Surrogationalismus”, um dieses (falsche) Modell vom Funktionieren einer Sprache zu charakterisieren:
Surrogationalism accepts as axiomatic the principle that words have meaning for us because words ‚stand for’ – are surrogates for – something else. (Harris 1988, 10)
Erkenntnis:
Die schicke VR/AR-App ist ein typischer Fall von palliativer Technik bzw. palliativer Didaktik. Denn sie ist nichts anderes als eine digitale Variante des Quine’schen Bedeutungs-Museums, sie ummantelt virtuell ein längst überholtes Modell vom Funktionieren der Sprache und macht es zur Grundlage des Lernens von Vokabeln.
Offene Frage:
Vor diesem Hintergrund wäre es interessant, einmal zu untersuchen, inwieweit sich das Lernen von Vokabeln in der Schule (!) immer noch (implizit) am Surrogationalismus orientiert.
Literatur:
Harris, Roy (1988): Language, Saussure and Wittgenstein. How to play games with words. London, New York: Routledge.
Quine, Willard van Orman (1975): Ontologische Relativität. In: Ders.: Ontologische Relativität und andere Schriften. Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Spohn. Stuttgart: Reclam (=RUB 9804). S. 41-96.
Wittgenstein, Ludwig (1953): Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe in 8 Bänden. Band 1: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 (= stw 501). S. 225-580. (Zitation nach Paragraphen)