Texte über digitale Bildung und/oder die Schule, die die Überschrift “Ende der Kreidezeit” tragen, gibt es wie Sand am Meer (s. Screenshot).
Die Überschrift funktioniert hier inzwischen wie ein Schibboleth:
Diejenigen, die den Diskurs um digitale Bildung nicht kennen, finden den Slogan “Ende der Kreidezeit” originell und werden zum Lesen animiert.
Diejenigen, die den Diskurs jedoch genau kennen, wissen bereits anhand der Überschrift, dass sie von einem Autor, der den Slogan “Ende der Kreidezeit” wählt, nichts Neues zu erwarten haben.
Das ist eine Win-Win-Situation: Unkundige werden in den Diskurs gelotst, Kundige können bereits nach der Überschrift mit der Lektüre des jeweiligen Textes aufhören. Das spart Lese- und Lebenszeit.
Heute spülte mir Twitter einen sehr interessanten Text in die Timeline. Er hebt an mit einem Tweet:
„Glaube, ich will keine »TabletKlasse«, sondern guten Unterricht machen, in dem ich das jeweils didaktisch best (sic!) geeignete Medium nutzen kann.“
Der hier konstruierte Gegensatz („Ich will nicht x, sondern y) ist irritierend: Warum sollte man in Tablet-Klassen keinen guten Unterricht machen können? Warum sollte man nicht das jeweils didaktisch am besten geeignete Medium wählen können? Welches Bild von der Arbeit in Tablet-Klassen liegt dem Text zugrunde?
In vielen Debatten über die Nutzung des Internets wird von bewahrpädagogischen Kritikern darauf hingewiesen, dass das Netz süchtig mache und dass die Jugendlichen von heute nur noch ziellos und ohne Plan durch alle möglichen Webseiten surfen und nicht mehr selbst denken.
Wie kann man diesem Argument begegnen?
Eine Lösung:
Ein kommodes Mittel, solche Einwände zu relativieren, ist der Blick in die Mediengeschichte. So findet sich beispielsweise in einem Text aus dem Jahre 1867 folgende Charakterisierung der Lesesucht:
“Diese Lesesucht ist eine unmäßige Begierde, seinen eigenen unthätigen Geist mit den Einbildungen und Vorstellungen Anderer, aus deren Schriften vorübergehend zu vergnügen. Man liest, nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern um zu – lesen; man lieset das Wahre und das Falsche prüfungslos durcheinander, ohne Wißbegier, sondern mit Neugier.”
Quelle: Bayerischer Schulfreund. Zentralblatt für vaterländisches Elementar-Schulwesen (Empfohlen durch königl. Ministerialreskript vom 25. März 1864). Nr. 44 vom 31.10.1867, S. 347.
Wenn man nun alle Begriffe, die sich auf die Lesekultur beziehen, durch Begriffe aus der Internetwelt ersetzt, erhält man:
“Diese Onlinesucht ist eine unmäßige Begierde, seinen eigenen unthätigen Geist mit den Einbildungen und Vorstellungen Anderer, aus deren Websites vorübergehend zu vergnügen. Man surft, nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern um zu – surfen; man surft durch Wahres und Falsches prüfungslos durcheinander, ohne Wißbegier, sondern mit Neugier.”
Das verdeutlicht exemplarisch, dass sich die Form der Argumente wider die Medien im Laufe der Geschichte kaum verändert hat. Ein Internet-Kritiker kann die Form von Argumenten nutzen, die bereits gegen das Lesen vorgebracht wurden und die aus heutiger Sicht bestenfalls amüsant klingen.
Früher hat die Mutter vielleicht gesagt: “Lies nicht so viel, geh lieber raus in den Wald!” Heute bekommt Björn-Kevin zu hören, er möge doch nicht so viel im Internet surfen, sondern lieber ein gutes Buch lesen.
Die Quintessenz:
Natürlich ist bei solchen Argumenten Vorsicht geboten, denn die Tatsache, dass sich ein Einwand in der Vergangenheit als unbegründet erwiesen hat, garantiert nicht, dass er sich auch in Zukunft als unbegründet erweist. Induktive Argumente, die Standardsituationen der Technikkritik aufgreifen, sind daher bestenfalls Relativierungen bewahrpädagogischer Positionen.
Dass der Trends zu eBooks auch bedeutet, dass man intellektuelle Haushalte nicht mehr an der Zahl der in den Regalen gut sichtbaren Bücher erkennen kann, hat als erster Konzern Ikea erkannt.
Das neue Produkt “Billy Fåke” macht aus leeren Regalen wieder repräsentative Möbelstücke des Bildungsbürgertums: