Didaktische Schieberegler. Oder: (Distanz-)Lernen und pädagogische Antinomien

Gemeinsam mit Philippe Wampfler und Wanda Klee habe ich im Auftrag des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes NRW sechs Hinweise zum Distanzlernen verfasst. 

(Abb. 1: Kurzform der Hinweise zum Distanzlernen. Screenshot)

Die sprachliche Gestaltung dieser Hinweise spiegelt sehr bewusst eine antinomische Struktur wider, die ganz allgemein für pädagogische Prozesse charakteristisch ist. Kant hat sie in seiner Schrift  „Über Pädagogik” (1803, S. 32) in folgende Frage gekleidet:

„Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?”

Die hier deutlich werdende Antinomie besteht darin, dass Erziehung zur Freiheit in gesellschaftlichen Kontexten geschieht, in denen die angestrebte Freiheit zumindest teilweise durch institutionelle Zwänge eingeschränkt wird (vgl. hierzu auch Albrecht/Preis/Schildhauer 2020 und Schlömerkemper 2017). 

Die Genese institutioneller Zwänge hat Searle in seiner Theorie der sozialen Ontologie erläutert: Zum Wesen von Institutionen gehört es, „deontic powers“ (Searle 2010, S. 8) zu entfalten, die wiederum „desire independent reasons for action“ (ebd., S. 9) erzeugen. 

Eine dieser „deontic powers“ ist die Schulpflicht: Sie ist oft der einzige Grund, warum Schülerinnen und Schüler, deren Wünsche in eine ganz andere Richtung gehen, regelmäßig den Unterricht besuchen.

Innerhalb institutioneller Rahmungen sind Freiheit und Zwang die Pole, zwischen denen pädagogisches Handeln oszilliert. Grafisch ließe sich das als eine Art Schieberegler darstellen:

Erziehung zu Freiheit und Selbstständigkeit (oder moderner: zu selbstbestimmtem Handeln in sozialer Verantwortung) verlangt von Lehrenden, den didaktischen Schieberegler immer wieder neu zu justieren und sich dabei idealerweise von dem Grundsatz „So viel Freiheit wie möglich, so viel Zwang wie nötig“ leiten zu lassen. Das führt zurück zu den oben zitierten Hinweisen, die sich – mit einer Ausnahme – ebenfalls in der Schieberegler-Optik visualisieren lassen:

Lediglich der Grundsatz „So viel Empathie und Beziehungsarbeit wie möglich, so viele Tools und Apps wie nötig“ passt nicht in die antinomische Struktur, weil hier keine Oppositionen, sondern Interdependenzen im Fokus stehen.

Anders formuliert: Der Grundsatz ist keine Spielart des – bestenfalls trivialen – Mottos „Pädagogik vor Technik“, sondern ein dezenter Hinweis darauf, dass Pädagogik immer nur mit Technik möglich ist.

(Distanz-)Lernen gut zu organisieren, bedeutet, die Schieberegler des „didaktischen Equalizers“ stets neu auf die jeweilige Lerngruppe sowie die schulischen, häuslichen, pädagogischen, technischen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen abzustimmen. 

Literatur:

Albrecht, Christian/Preis, Matthias/Schildhauer, Peter (2020): Verstetigung im Wandel. Antinomien als Konstanten digitaler Transformation? In: Beißwenger, Michael/Bulizek, Björn/Gryl, Inga/Schacht, Florian (Hg.): Digitale Innovationen und Kompetenzen in der Lehramtausbildung. Duisburg: UVRR (im Druck).

Kant, Immanuel (1803): Über Pädagogik. Königsberg: Friedrich Nicolovius.

Schlömerkemper, Jörg (2017): Pädagogische Prozesse in antinomischer Deutung. Begriffliche Klärungen und Entwürfe für Lernen und Lehren. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Searle, John (2010): Making the Social World. The Structure of Human Civilization. Oxford: University Press.

24 Gedanken zu “Didaktische Schieberegler. Oder: (Distanz-)Lernen und pädagogische Antinomien

  1. Hallo Axel,

    den Bezug auf die Antinomie finde ich gut. Ich habe mich allerdings gefragt, ob das wirklich alles antinomische Strukturen sind. Antinomie hieße ja, dass sich die beiden Pole wechselseitig ausschließen und implizieren. Bei Vertrauen/Freiheit vs. Kontrolle/Struktur würde ich sagen, ja das ist im Grunde eine Reformulierung der klassischen pädagogischen Antinomie, wie sie auch von Kant formuliert wurde.
    Bei neuer Technik vs alte Technik bin ich mir schon nicht mehr so sicher, ob das wirklich gegenseitig ausschließt. Der Computer ist ja eine Integration verschiedener „alter“ Medien. Bei asynchroner vs. synchroner Kommunikation weiß ich nicht, ob es da eine klare trennscharfe Unterscheidung überhaupt gibt Ist ein Chat noch synchron, wenn man mit zehn Minuten Verzögerung antwortet? Und schließen sich die beiden Kommunikationsformen wirklich aus?
    Ähnlich sehe ich beim Peer-Feedback vs. Lehrerfeedback keinen wirklichen gegenseitigen Ausschluss. es gibt ja von Werner Helsper die Formulierung der pädagogischen Handlungsparadoxa. Er nennt hier Nähe v Distanz, Person des Schülers vs. Anspruch der Lernsachen, Einheitlichkeit vs. Differenz, Organisation vs. Interaktion, Rekponstruktion vs. Subsumption und Autonomie vs. Heteronomie.

    Hegel hat sich ja auch besonders für die Antinomien bei Kant (in der „Kritik der reinen Vernunft“ interessiert und diese dialektisch ausformuliert. Das wäre hier unter Umständen ein vielversprechender Ansatz.

    Lg
    Max

  2. Danke für die klugen Hinweise. Ich glaube auch, dass sich die strikte Kantische Lesart in meinem Beispiel nicht durchhalten lässt.

    Ich habe in den Literaturangaben ganz bewusst auf zwei Texte verwiesen, in denen der Begriff der Antinomie mit pädagogischer Ausrichtung sehr genau untersucht wird. In dem Buch von Schlömerkemper gibt es beispielsweise eine dialektische, eine kommunikationstheoretische, eine systemische und eine interaktionistische Deutung. Und Schlömerkemper verweist auch darauf, wie unscharf der Begriff ist bzw. wie vielfältig er verwendet wird.

    Ich denke aber, dass trotz dieser begrifflichen Unschärfen die Grundidee ganz gut transportiert wird: am deutlichsten wohl in dem Kontrast zwischen Freiheit und Kontrolle, dann mit Abstufungen in den anderen Fällen.

    Ich nehme Deinen Kommentar nochmal zum Anlass, über das Modell nachzudenken. Dieser erste kurze Text sollte eigentlich nur eine recht spontane Idee, die ich während eines Online-Seminars hatte, verschriftlichen 😉

    • Marx schreibt „Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte“. In Anlehnung daran könnte man sagen, Antinomien sind die Magnetschwebebahnen der Erkenntnistheorie. In der Pädagogik spielen Antinomien vor allem als praktische Handlungsparadoxien eine Rolle, wie in der klassischen pädagogischen Antinomie paradigmatisch ausgedrückt. Ich finde hier in Anlehnung an Hegel auch die Rede von der widersprüchlichen Einheit hilfreich.

      Wie kann man die Freiheit bei dem Zwange kultivieren? Eine gewisse Freiheit ist die Voraussetzung, dass der Zwang akzeptiert wird. Und der Zwang soll dazu verhelfen von der Freiheit den vollen Gebrauch zu machen. So bedingen sich beide Pole gegenseitig und schließen sich doch scheinbar aus. Das Eine ist ohne das Andere aber auch nur einseitig und beschränkt. Dialektisch sind beide Seiten jedoch immer aufeinander bezogen zu denken.

      Das Bild des Schiebereglers suggeriert auch, man könne sich von einem Pol eine beliebige Quantität in den Unterrichtsentwurf packen, wodurch die Quantität de anderen Pols determiniert wird. Danei wäre aber auch ein Verhältnis von 0:100 denkbar. Damit fehlt jedoch eine Seite der Antinomie. Für die Antinomie / widersprüchliche Einheit hat Ritsert das Yin & Yang Zeichen benutzt. Jede Seite enthält die andere in sich.

      In euren Impulsen für das Distanzlernen, die ich übrigens sehr gut finde, habt ihr die einzelnen Punkte ja in der Form: „so viel wie möglich von X und so viel wie nötig von Y“, formuliert. Dabei erscheint der eine Pol als höherwertig. Oder ist das eine falsche Interpretation? Oder der eine als notwendige Bedingung des Anderen. Oder der eine als Ziel, der andere als Weg dahin. Interessanterweise seid ihr beim Einsatz neuer Medien zurückhaltend und empfehlt dort nur so viel wie nötig. Das ist ja wahrscheinlich auch sinnvoll, um weder Lehrer noch Schüler mit Neuem zu überfordern und im Sinne einer langsamen Transformation der Unterrichtspraxis!?

      to be continued…

      • Der Gegensatz zu Empathie und Beziehungsarbeit wäre distanzierte rollenspezifische Interaktion zwischen Lehrer und Schüler. Dieses rollenspezifische Handeln wäre beschränkt auf die Aufgabe der Wissens- und Wertevermittlung in der Schule. Demgegenüber ist Beziehungsarbeit nur in einer diffusen Sozialbeziehung möglich. Auch hier findet man die widersprüchliche Einheit, in dem Fall von spezifischer und diffuser Sozialbeziehung oder von Nähe und Distanz. (vgl. Oevermann)
        Die Punkte Technik und Kommunikation beziehen sich ja auch die Medienwahl, während Feedback und Projektarbeit sich auf die Methodenwahl beziehen. (vgl. Heimanns didaktisches Rahmenmodell) Im Bereich der Sozialformen könnte man noch Gruppen- und Einzelarbeit hinzunehmen.
        Bei der Projektarbeit gehe ich tatsächlich davon aus, dass gerade bei Schülern mit wenig Vorwissen kleinschrittige Übungen immer wieder eingeflochten werden müssen, um zu selbstständigem Arbeiten zu gelangen.
        Im Sinne des didaktischen Dreiecks könnte man auch noch die Gegensätze schülerzentriert oder lehrerzentriert, partizipationsorientiert oder sachorientiert hinzu nehmen. Überspitzt gesagt geht es bei partizipationsorientiertem Unterricht darum, dass jeder was sagt und bei sachorientiertem Unterricht, dass das was gesagt wird auch richtig ist.

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