Wer sich als Student oder Referendarin einen ersten Überblick über die Fachdidaktik Philosophie verschaffen möchte, greift in der Regel zum gedruckten Buch. Insbesondere als Anfänger(in) erwartet man hier sorgfältig lektoriertes und vertrauenswürdiges Material, das man – wenn überhaupt – im Internet nur mit erheblichem Zusatzaufwand selbst finden und zusammenstellen könnte. Die Bedeutung der einschlägigen Einführungswerke sollte aus mindestens drei Gründen nicht unterschätzt werden: Nach außen hin repräsentieren sie die wichtigsten Grundlagen der Fachdisziplin, auf einer subjektiven Ebene prägen sie als Initiations-Lektüre zumindest unterschwellig die Einstellung zur Philosophiedidaktik und schließlich besitzen sie – ähnlich wie die Curricula – institutionellen Charakter, wenn sie z.B. als Pflichtlektüre im (Fach-)Seminar prüfungsrelevant werden.
Im Folgenden soll der spezifischen Frage nachgegangen werden, wie sich die Fachdidaktik Philosophie im Diskurs über zeitgemäße Bildung (bzw. das Lernen und Lehren unter den Bedingungen der Digitalität) in den Einführungswerken und im Kernlehrplan positioniert.
Spätestens seit dem KMK-Papier zur „Bildung in der digitalen Welt“ (2016) ist klar, dass die Schule ihren Bildungsauftrag nur dann angemessen erfüllen kann, wenn sie sich als Institution auf vielen Ebenen (z.B. pädagogisch und curricular) mit der „digitalen Revolution“ (KMK 2016, S. 3) reflektiert und verantwortungsvoll auseinandersetzt. Die Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD), der Dachverband der Fachdidaktiken in Deutschland, hat als Reaktion auf die KMK ein eigenes Positionspapier mit dem Titel „Fachliche Bildung in der digitalen Welt“ veröffentlicht (GFD 2018). Ausgehend von der These, dass Unterricht immer Fachunterricht ist, wird aufgezeigt, welche spezifische Rolle die Fachdidaktiken im Kontext der Digitalisierung spielen bzw. spielen sollten. Das Besondere: Kein Philosophie-Didaktiker hat an dem Papier mitgewirkt. Angesichts der philosophischen Potenziale, die mit dem digitalen Wandel verknüpft sind, muss das verwundern.
Denn das Fach Philosophie ist in besonderer Weise dazu geeignet, über die Folgen des Paradigmenwechsels nachzudenken, der mit der Digitalisierung verbunden ist. Raum, Zeit, (personale) Identität, (Selbst-)Bewusstsein, Lernen, Wissen, Bildung, (künstliche) Intelligenz, Medien, Politik, Umwelt, Ethik: Das sind nur einige der Aspekte und Konzepte, die sich unter den Bedingungen der Digitalität (sensu Stalder 2016) zum Teil grundlegend wandeln. Die Schüler(innen) leben ganz selbstverständlich im Onlife und in der Infosphere (vgl. Floridi 2014, S. 43), d.h. in einer Welt, die maßgeblich durch (zumeist unsichtbare) Formen von Computertechnologie geprägt ist und in der die einst klare Unterscheidung zwischen online und offline nicht mehr greift.
Letztlich geht es um die Frage, welche Rolle und Funktion digitalen Medien im Philosophieunterricht zugesprochen wird. Es wird sich zeigen, dass die Antwort auf diese Frage u.a. eng mit dem Verständnis des Begriffs „philosophischer Text“ zusammenhängt.
Philosophische Texte
Aktuelle linguistische Konzepte gehen von einem (konzentrisch) erweiterten Textbegriff aus, der Phänomene wie Interkodalität, Intermedialität und Intertextualität hinreichend berücksichtigt (vgl. hierzu Fix 2009, S. 105). Das wissen natürlich auch die Philosophiedidaktiker. Dennoch wird der Begriff „Text“ zumeist auf unikodal-schriftsprachliche Artefakte bezogen. Das lässt sich exemplarisch an einem Zitat von Wittschier belegen, der ganz sicher über jeden Verdacht erhaben ist, methodisch-didaktische Zugänge im Philosophieunterricht monomedial-verengt zu denken. Er schreibt:
„Der Text ist und bleibt trotz aller technischen Innovationen und der zunehmenden Visualisierung unserer Kommunikation neben dem Dialog […] das wichtigste Medium des Philosophieunterrichts.” (Wittschier 2016, S. 225)
Diese Feststellung ist deshalb interessant, weil der zentrale Begriff „Text“ in dem zitierten Aufsatz an keiner Stelle auch nur ansatzweise definiert wird. Vielmehr wird stillschweigend vorausgesetzt, dass ein klassischer philosophischer Print-Text und nicht beispielsweise ein literarischer Text, ein Comic, ein Hörspiel, ein Film, ein Computerspiel oder ein Hypertext gemeint ist. Die damit verbundene (implizite) Engführung des Textbegriffs stellt keine Seltenheit dar (vgl. exemplarisch Rohbeck 2008, Pfister 2010, Pfeifer 2013, Kertscher 2016) und führt hin und wieder zu merkwürdig-paradoxen Urteilen: Einen Beitrag von Bergmann (2017), in dem überzeugend dafür argumentiert wird, dass auch Jugendbücher zu den philosophischen Texten zählen können, kündigt Brüning als Herausgeberin ausgerechnet mit dem Hinweis an, dass mit Jugendbüchern auch „nichtphilosophische Texte” (2017, S. 9) Einzug in den Philosophieunterricht halten.
Die implizite Verengung des Textbegriffs kann auch zu Formen von inattentional blindness führen: So wird die Aufmerksamkeit im Praxisbuch von Richter (2016) so sehr auf klassische philosophische Werke gerichtet, dass andere mediale Formen vollständig aus dem Blickfeld verschwinden, ohne dass ein Bewusstsein für diesen blinden Fleck existiert.
Vor diesem Hintergrund könnte man neologistisch zugespitzt die These aufstellen, dass die Philosophie-Didaktik Gefahr läuft, zu einer Konzessiv-Didaktik zu werden: Neben dem klassischen philosophischen Text werden andere mediale Formen (z.B. Jugendbücher, Bilder, Filme) lediglich im „Trotz“-Modus anerkannt: Denn trotz technischer Innovationen, trotz der Digitalisierung, trotz einer sich radikal wandelnden medialen Sozialisation der Schüler(innen), trotz neuer Formen des Lesens und Schreibens etc. soll der klassische philosophische Text das Zentrum des Unterrichts bleiben.
Philosophische Texte und präsentative Materialien
Im aktuellen Kernlehrplan wird bekanntlich zwischen diskursiven und präsentativen Materialien unterschieden, die die philosophische Problemreflexion anregen können. Werke der philosophischen (Text-)Tradition werden zu den diskursiven Materialien gezählt, während literarische Texte, Bilder, Filme und andere Kunstwerke als präsentative Materialien gelten (vgl. KLP 2014, S. 12).
Dass präsentative Materialien im Lehrplan verankert sind, ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Vier Aspekte müssen jedoch kritisch gesehen werden:
- Die Wahl des Oberbegriffs „Material“ ist ein terminologischer Winkelzug. Einerseits repräsentiert die Breite der diskursiven und präsentativen Materialien den Gegenstandsbereich eines erweiterten Textbegriffs, andererseits taucht der Begriff „Text“ im Kernlehrplan nur im engen Sinn auf („philosophischer Text“, „literarischer Text“).
- Die Gegenüberstellung von philosophischen Texten und präsentativem Material impliziert kontrafaktisch, dass präsentative Materialien keine philosophischen Texte sind bzw. sein können, und steht daher in der Tradition eines verengten Textbegriffs.
- Es ist schlicht falsch, literarische Texte pauschal zu den präsentativen Materialien zu zählen. Denn das stärkt die irrige Annahme, es gäbe eine klare Grenze zwischen (philosophischen) Sachtexten und literarischen Texten bzw. als wäre jeder Sachtext nicht-fiktional und literarische Texte stets fiktional (vgl. hierzu kritisch z.B. Gabriel 1982, S. 543 und Rühling 1996, S.25-26).
- Der Kernlehrplan begünstigt eine funktionale Beschränkung präsentativer Materialien: Mit literarischen Texten, Bildern, Filmen etc. lassen sich lediglich Fragen herausarbeiten und erläutern (vgl. KLP 2014, MK2), während nur mit philosophischen Texten auch Probleme ermittelt (vgl. MK3), Begriffsbestimmungen identifiziert (MK3) oder Argumente analysiert werden können (vgl. MK5). Das führt dazu, dass präsentative Materialien eher als Einstiegsimpulse denn als eigenständige Unterrichtsgegenstände genutzt werden (vgl. hierzu auch Bergmann 2017, S. 151).
Die hier diagnostizierte Engführung des Begriffs „philosophischer Text“ und die funktionale Privilegierung des klassischen Textes gegenüber präsentativem Material sind Mosaiksteine eines Bildes, in dem digitalen Medien nur eine marginale Rolle zugesprochen wird. Das lässt sich bereits quantitativ zeigen: Der Begriff „Internet“ kommt im Kernlehrplan lediglich dreimal vor und verweist nicht etwa auf den Unterricht, sondern auf die Seiten des Schulministeriums (vgl. KLP 2014, S. 44, 48 u. 49). Der Ausdruck „digital“ findet sich – stets in Klammern – sechsmal und bezieht sich immer auf Lexika, die man nicht nur in Printform nutzen darf (vgl. MK9, KLP 2014, S. 20, 26, 33, 56). Digitales lässt sich im Kernlehrplan begrifflich also kaum explizit ausmachen.
Der Bezug zur Kultur der Digitalität (sensu Stalder 2016) muss daher terminologisch in den „konkreten Phänomenen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens“ (KLP 2014, S. 12) verborgen sein. Wie sonst sollte der Philosophieunterricht seine Aufgabe erfüllen können, „zum Verstehen der Wirklichkeit als ganzer in ihren vielfältigen Dimensionen beizutragen“ (KLP 2014, S. 11), wenn diese Wirklichkeit maßgeblich durch die Digitalisierung geprägt ist?
Kurz: Der Kernlehrplan erfasst digitale Medien und Digitalität bestenfalls implizit. Wie sieht es in den einschlägigen Einführungen aus?
Mediale Leerstellen
Wie digitale Medien in den gängigen Einführungswerken behandelt (bzw. nicht behandelt) werden, soll an fünf Einzelfällen verdeutlicht werden. Sie zeigen exemplarisch, wie der Kultur der Digitalität fachdidaktisch häufig begegnet wird: unzureichend, unangemessen, uninformiert oder gar nicht.
Digitale Medien werden bei Pfister (2010) auf knapp 250 Seiten fast gänzlich ausgeblendet: Nur ganz kurz wird auf den Computer eingegangen, der jedoch vor allem als kommode Schreibhilfe gepriesen wird, dessen großer Vorteil darin besteht, dass man mit seiner Hilfe jederzeit „Abschnitte ausschneiden und an anderer Stelle wieder einsetzen […] und […] das Produkt ausdrucken und vervielfältigen kann“ (Pfister 2010, 58). Als Nachteil des Computers wertet er jedoch den Umstand, dass man „auf mehr oder weniger teure Maschinen und Strom angewiesen ist“ (ebd.). Stift, Papier und Heft erscheinen ihm hingegen wertvoll, weil man – anders als beim Schreiben am Computer – gezwungen sei „vor dem Schreiben zu denken.“ (ebd. Hervorhebung im Original) Und in den wenigen Zeilen, in denen im Anschluss an Schütze (2008) auf die Einsatzmöglichkeiten interaktiver Schreibformen im Internet hingewiesen wird, gelingt es Pfister, E-Mails als synchrone Kommunikationsform misszuverstehen sowie Foren, Wikis und Blogs durcheinander zu bringen (Pfister 2010, S. 70-71). Wohlgemerkt: Diese Defizite lassen sich nicht durch das Erscheinungsjahr relativieren, denn schon 2010 waren die „neuen“ Medien längst nicht mehr neu. Das ließe sich rasch durch einen Blick in fachdidaktische Einführungsbände anderer Disziplinen aus demselben Jahr zeigen. Immerhin: Im Neuen Handbuch des Philosophie-Unterrichts, das Pfister zusammen mit Zimmermann 2016 herausgegeben hat, findet sich ein eigenes Kapitel zu digitalen Medien (vgl. Schütze 2016).
In seiner „Didaktik des Ethikunterrichts“ skizziert Pfeifer (2013) mit skeptisch-klagendem Unterton Strukturmerkmale der Jugendphase. Insbesondere mit dem zeitlichen Abstand von mehr als einem halben Jahrzehnt stellt sich rasch der Eindruck ein, dass hier der aus der Politeia bekannten Klage des Sokrates über die ach! so verdorbene Jugend ein weiteres Kapitel hinzugefügt wird: Die Heranwachsenden vergnügen sich lieber im Hier und Jetzt als Verpflichtungen einzuhalten, glauben fast alles, was die Medien zeigen, sind überwältigt von der Bilderflut, favorisieren „den Habitus des oberflächlichen Signalentzifferns“ (Pfeifer 2013, S. 25) und hören laute Musik, um „eine gewisse Sicherheit und Geborgenheit zu erlangen.“ (Pfeifer 2013, S. 23). Da erscheint es folgerichtig, dass Pfeifer einen Absatz über die innovativen didaktischen Potenziale des Hypertextes durch eine Eloge auf das Schreiben mit Papier und Bleistift austariert (vgl. Pfeifer 2013, S. 165-169). Selbstredend sind viele der Aussagen Pfeifers sachlich zutreffend: Unter den Bedingungen der Digitalität verändern sich Lesen und Schreiben sowie die Konzepte des Wissens und Lernens in erheblichem Maße (vgl. z.B. Lobin 2014; Weinberger 2011). Diese Veränderungen sollten jedoch nicht Teil einseitiger Verlusthypothesen werden. Wer Schüler(inne)n im Unterricht „eine gewisse sittliche Orientierung“ (Pfeifer 2013, S. 25) anbieten will, der darf Werte und Normen nicht apodiktisch aus der (Groß-)Elternperspektive beurteilen. Wie komplex die Lebenswelt bzw. die Medienwelt der Kinder und Jugendlichen inzwischen geworden ist, analysiert in besonders luzider Weise die amerikanische Ethnosoziologin Danah Boyd. Gerade für Lehrer(innen), die dazu neigen, ihre Schüler(innen) für Selfie-Narzissten und Smartphone-Süchtige zu halten, die jeden Sinn für wahre Freundschaft, die richtigen Werte, den Schutz der Privatsphäre und das „echte“ Leben verloren haben, sei die Lektüre des Buches mit dem bezeichnenden Titel „It’s complicated“ (Boyd 2014) empfohlen.
In Kapitel 5 der „Fachdidaktik Philosophie“ von Geiß (2017) stößt man auf den Begriff „interaktive Medien“ (ebd., S. 133. Hervorhebung im Original). Dieser Ausdruck meint im 21. Jahrhundert – zumindest außerhalb der Philosophiedidaktik – ganz selbstverständlich digitale Medien. Innerhalb der Philosophiedidaktik bedeutet er jedoch offensichtlich etwas anderes. Denn Geiß bezieht sich auf Brüning (2003, S. 146-160), die darunter philosophische Spiele versteht: So sollen Schüler(innen) z.B. Philosophennamen sammeln, die mit demselben Buchstaben beginnen. Wer die meisten findet, hat gewonnen (vgl. Brüning 2003, S. 149). Aus der Perspektive anderer Disziplinen war dieses Begriffsverständnis schon 2003 anachronistisch. Dass es 2017 kommentar- und kritiklos übernommen wird, könnte man mangelnder terminologischer Sensibilität zuschreiben. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass Geiß hier sehr bewusst vorgeht, denn er widmet den interaktiven (d.h. digitalen) Medien auf knapp 400 Seiten keine einzige Zeile.
Brüning (2016, 2017) behandelt digitale Medien hingegen in einem eigenen Kapitel. Es steht jedoch zu vermuten, dass sie über einen Gegenstandsbereich schreibt, den sie weder aus eigener Anschauung hinreichend kennt noch wissenschaftlich angemessen erschlossen hat. Schon die These, dass die Nutzung digitaler Medien in der Arbeit mit dem „Active Board“ kulminieren würde und den Unterricht in allen Fächern revolutioniert habe (vgl. Brüning 2016, S. 160), ist problematisch. Zum einen wird statt des üblichen (und neutralen) Begriffs des interaktiven Whiteboards (IWB) ein Produktname genutzt, zum anderen gilt das IWB schon länger als Sinnbild für eine im Schulalltag gescheiterte Technologie (vgl. Döbeli Honegger 2014). Formulierungen wie „Blogs können im Unterricht jederzeit durch die Active Boards heruntergeladen werden“ (Brüning 2016, S. 162) zeugen – euphemistisch gesagt – sowohl in technischer als auch in sprachlicher Hinsicht von wenig Vertrautheit mit der Blogosphäre. Spätestens der Verweis auf das „unter Jugendlichen in Deutschland beliebte Spiel Second Life“ (ebd., S. 164) macht dann überdeutlich, wie weit Brüning von der Medienwelt der Schüler(innen) entfernt ist. Einschlägige empirische Studien (z.B. JIM 2014 oder 2015) sind offenbar nicht gesichtet worden. Stattdessen dient Weizenbaums Klassiker Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft aus dem Jahr 1976 (!) flankiert von Turkles einseitig kulturpessimistischer Abhandlung Alone Together (2011) als Grundlage der Argumentation. Ausgewogen-reflektierte Darstellungen (wie z.B. Floridi 2014) werden nicht zitiert. Es nimmt daher nicht Wunder, dass in Brünings Darstellung die Gefahren der Online-Welt im Vordergrund stehen. So erscheint das Smartphone vor allem als eine Art Droge, die zu Suchtproblemen und zur Vereinsamung der „Tamagoshi [sic!] und Furbie-Generation“ (Brüning 2016, S. 165) führt. Brünings Buch ist 2017 in zweiter Auflage erschienen. Doch wer die Hoffnung hegt, dass die Neuauflage zur kritischen Überarbeitung und dringend notwendigen Aktualisierung genutzt wurde, wird enttäuscht. Entfernt wurde nur der offensichtlichste sachliche Fehlgriff: der Hinweis auf Second Life. Der Rest des Kapitels blieb unverändert (abgesehen von Fehlern im Schriftsatz, für die man die Autorin nicht verantwortlich machen kann). Kurz: Als angemessene Grundlage für eine fachdidaktische Auseinandersetzung mit Medienkompetenz im digitalen Zeitalter ist Brünings Text nicht brauchbar.
Roew und Kriesel (2017) sehen Computerspiele und das Internet – entlarvenderweise unter Berufung auf Spitzer (2012) – ebenfalls einseitig als Ursache für Sucht und Abstumpfung. Aus dieser Perspektive wird es jedoch schwierig bis unmöglich, der Medienwelt der Heranwachsenden gerecht zu werden. Bei Roew/Kriesel zeigt sich das u.a. in einer fundamentalen Fehlinterpretation des Films The Matrix (USA 1999), der durch Elemente der Computerspielästhetik geprägt ist und den die Autoren unreflektiert und zu Unrecht an die „Grenze zur Gewaltverherrlichung“ (Roew/Kriesel 2017, S. 269) rücken.
Die Ursachen für die hier deutlich werdenden Defizite sind vielschichtig. Überdacht werden müsste z.B. auch der Stellenwert, der Medien generell im Rahmen der Unterrichtsplanung zugesprochen wird. Wenn z.B. die Frage der Medienwahl gar nicht explizit thematisiert wird (vgl. Zimmermann 2016, S. 74-76), zur Marginalie verkommt (vgl. Pfister 2010, S. 98) oder lediglich als Teil einer Methodenlehre verstanden wird (vgl. Roew/Kriesel 2017, Kapitel 9), besteht die Gefahr, dass der Einfluss des Mediums auf die anderen Faktoren, die den Unterricht bedingen, unterschätzt bzw. ausgeblendet wird (vgl. Krommer 2018).
Die hier bewusst scharf und zugespitzt formulierte Kritik bezieht sich ausschließlich auf Einführungswerke akademischen Ursprungs. Zeitgemäßer Philosophieunterricht ist selbstverständlich trotz der hier kritisierten Werke in der konkreten Praxis möglich. Und glücklicherweise gibt es Publikationen – z.B. Nida-Rümelin/Spiegel/Tiedemann (2015) oder Pfister/Zimmermann (2016) –, in denen die digitalen Medien mit positivem Tenor in einem eigenen, kenntnisreichen Kapitel angemessen behandelt werden (vgl. Schmidt/Schütze (2015) und Schütze (2016). Auch im Bereich der Zeitschriften ist das Thema mittlerweile angekommen (vgl. z.B. Praxis Philosophie & Ethik 4 (2017) oder Ethik &Unterricht 1 (2018)).
#Philosophiedidaktik
Ein Großteil der fachdidaktischen Einführungswerke steht der Buchkultur deutlich näher als der Kultur der Digitalität. Produktive Impulse, die tatsächlich dazu beitragen, die Lebens- und damit die Medienwelt der Schüler(innen) in angemessener Weise zu berücksichtigen, sind aus dieser Richtung nicht zu erwarten. Zu beobachten ist allerdings, dass sich immer mehr Philosoph(inn)en in sozialen Netzwerken zusammenschließen, Ideen und Texte teilen, im Sinne der Prinzipien des Working out Loud (Stepper 2015) (semi-)öffentlich arbeiten und die #followerpower ihrer persönlichen Lernnetzwerke (vgl. Baum 2018) nutzen, um von der kollektiven Schwarmintelligenz zu profitieren. Diese Kolleg(inn)en, die in ihrer beruflichen Rolle aktiv an der Kultur der Digitalität teilhaben, werden möglicherweise noch einige Zeit von denen belächelt, die Twitter nur aus der Tagesschau kennen, sich in eine Zeit zurückwünschen, in der man Telefonnummern noch auswendig kannte und glückliche Kinder im Wald spielten, anstatt auf ihre Handys zu starren. Zeitgemäßer Philosophieunterricht mit digitalen Medien wird jedoch nur möglich sein, wenn sich die wertkonservative Philosophiedidaktik entschlossen aus dem Gutenberg-Paradigma löst und bereit ist, sich unter den Bedingungen der Digitalität neu zu orientieren.
(Eine gekürzte und überarbeitete Fassung dieses Textes ist erschienen in: Ethik & Unterricht 1 (2019), S. 4-7.)
Literatur
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